Iannis Xenakis (1922-2001):

Oresteїa

deutsch Orestie / englisch Oresteia

Allgemeine Angaben zum Oratorium

Entstehungszeit: 1965-66, rev. 1989/92
Besetzung: Bariton, Kinderchor, gemischter Chor, Vokal- und Instrumental-Ensemble (mit Schlagzeug)
Spieldauer: ca. 100 Minuten
Verlag: Boosey & Hawkes
Bemerkung: Die revidierte Fassung von 1989/92 ist um die Hälfte kürzer, enthält aber eine zusätzliche Kassandra-Szene.

Zum Oratorium

Art: Oratorium in fünf Bildern
Libretto: gekürzte Fassung der antiken Tragödie des Aischylos in einer Version des Komponisten
Sprache: altgriechisch
Ort: Antikes Griechenland
Zeit: etwa um 1200 v. Chr.

Handlung

Der trojanische Krieg ist zu Ende. König Agamemnon kehrt heim nach Mykene und hat als kostbare Kriegsbeute Kassandra, die Tochter des Königs Priamos, mitgebracht. Offenbar hat niemand den Heimkehrer aufgeklärt, welche Verhältnisse er nach langer Abwesenheit daheim vorfinden wird.

Von Apollo erhielt Kassandra einst die Gabe der Weissagung. Da dieser aber von ihr nicht bekam, was er sich erhoffte, trübte er das Geschenk mit dem Fluch, dass niemand ihren Prophezeiungen glauben würde.
So auch jetzt! In einer fürchterlichen Vision sieht sie den Tod Agamemnons voraus, ebenso ihr eigenes gewaltsames Ende.

Was war geschehen? In seiner Abwesenheit hat die Frau Gemahlin sich einem Geliebten aus dem Geschlecht der Tantaliden zugewandt, mit dem sie gemeinsam die Herrschaft ausübt. Die Notwendigkeit gebietet, den heimkehrenden König zu beseitigen, um drakonischer Bestrafung zu entgehen.

Kassandra weissagt den weiteren Verlauf der Ereignisse: Agamemnon wird von Ägisth im Bad mit dem Beil erschlagen. Elektra plant Vergeltung an dem Schuldigen und hofft auf die Heimkehr ihres Bruders, den sie als Kind dem Zugriff seiner Widersacher entzogen hat. Orest kommt tatsächlich eines Tages unerkannt zurück und vollzieht die tödliche Rache an seiner Mutter und ihrem Geliebten.

Den Muttermörder drückt seine Tat nieder, und von den Errinnyen, die berufsmäßig zu rächen haben, wird er verfolgt. Die Olympier setzen ein Gericht ein, um den Tatbestand eindeutig festzustellen und zu bewerten, damit die Furien von dem Gehetzten ablassen. Das Resultat bleibt bei gleicher Anzahl der Steine in beiden Wagschalen unentschieden.

Doch Pallas Athene eilt ihrem Schützling zur Hilfe, steigt vom Olymp herab und lässt sich in den Streit ein. Durch einen zusätzlichen Stein, den sie in die Waagschale wirft, entscheidet sich das Schicksal zugunsten des Angeklagten. Durch das Orakel wird Orest von dem Vorwurf des Muttermordes freigesprochen.

Beschreibung

Die Vertonung des Aischylos-Dramas hat einen merkwürdigen Auslöser. Die Kleinstadt Ypsilanti in Michigan hat festgestellt, dass ihr Name nicht indianischen, sondern griechischen Ursprungs ist und die ersten Siedler Griechen gewesen sein sollen. Eine derartige Erkenntnis beflügelt, man verkleinert den Basketball-Platz und baut ein antikes Theater, um altgriechische Tragödien aufführen zu können. Iannis Xenakis ließ sich nicht lange bitten und komponierte eine Musik zur Oresteia. Er richtete es ein, dass das Instrumental-Ensemble die altgriechischen Verse ein wenig zutrommelt. Der Avantgardist hat allerdings nicht die Vorstellung, dass sein Werk nur in Ypsilanti erklingen soll, schuf eine gestraffte Form für den Konzertsaal und verlegte 20 Jahre später die Kantate „Kassandra“ in den Mittelteil. Er verfügte, dass die „Orestie“ nicht ohne „Kassandra“ gespielt werden darf, dagegen die Kassandra-Szene auch isoliert zur Aufführung gebracht werden kann. Eine eindrucksvolle Aufführung der Urfassung gab es 1987 auch in der Ruinenstadt Gibellina auf Sizilien als Festspielspektakel.

Die Handlung wird nicht durch Personen interpretiert, sondern vom Chor, der das Volk symbolisiert, vorgestellt. Die Partie der Kassandra ist äußerst rätselhaft. Akustisch ist die Seherin doppelt vertreten. Es erklingt eine wohlklingende Baritonstimme, die offenbar das Orakel verkündet. Der gleiche Solist verbiegt sein Stimmorgan in Richtung Altlage, welche mit einem Hang zur Groteske, die Ängste Kassandras formuliert und beim Zuschauer den Schauder auslösen soll, der dem Drama angemessen ist. Das gelingt auch, Kassandra steht also im Dialog mit sich selbst und gibt die Schrecken, die das Orakel gelassen verkündet, in stimmlich übersteigerter Hysterie an ihre Umgebung weiter. Einfallsreich begleitet wird die Gesangsnummer von einem Percussionisten. Schlagzeuger sind während des gesamten Vokalwerkes in angenehmer Weise präsent.


Letzte Änderung am 13.10.2012
Beitrag von Engelbert Hellen