Hanns Eisler (1898-1962):

Die Mutter

Allgemeine Angaben zur Kantate

Entstehungszeit: 1949
Uraufführung: Juni 1949 durch den Wiener Rundfunk
Besetzung: Mezzosopran, Bariton, mehrere Sprecher, Chor und zwei Klaviere
Spieldauer: ca. 40 Minuten
Erstdruck: VEB Deutscher Verlag für Musik
Verlag: Wiesbaden: Breitkopf & Härtel (Leihmaterial)
Bemerkung: Die Uraufführung des Bühnenstücks nach dem Roman von Maxim Gorki erfolgte im Januar 1932 in Berlin. Die Songs der später entstandenen Kantate waren sein Bestandteil. Publikum wie Kritik waren je nach Standpunkt über Wirkung und Stellenwert unterschiedlicher Meinung. Für die Aufführung in New York 1935 wurde die Instrumentalpartitur für zwei Klaviere umgeschrieben. Neu hinzu kam die Ballade von zerrissenen Rock. Auch später wurde an der Kantate ständig herumgebastelt. Die Urfassung ist aus unerklärlichen Gründen nicht mehr vorhanden. Eine Neufassung hat das Hanns-Eisler-Archiv der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin anlässlich des 70. Gedenktages des Komponisten erstellt, die nun als gültig angesehen wird.

Heute stellt sich die Frage, ob uns die Texte noch etwas zu sagen haben. Eigentlich nicht, denn die Botschaft ist verklungen. Man werte das Musikwerk als Zeitdokument und erfreue sich an Satire und Wortwitz!
Opus: op. 25

Zur Kantate

Art: Kantate nach dem Schauspiel von Bertolt Brecht
Text: Bertolt Brecht
Sprache: deutsch
Ort: Russland

Beschreibung

Nachdem der Pianist sich in die Tasten gelegt hat und die Ouvertüre verklungen ist, ergreift ein Kommentator das Wort und spricht bedeutungsvolle Worte. In der russischen Stadt Twersk habe das Jahr 1904 begonnen. Früh am Morgen koche die 42-jährige Pelagea Wlassowa, Witwe eines Arbeiters, dem Sohn, der auf die Arbeit geht, die Suppe.

Nun kommt die Mutter selbst zu Wort: Fast schämt sie sich, ihrem Sohn diese Suppe hinzustellen, aber sie kann kein Fett mehr hinein tun, nicht einen halben Löffel voll. Zum einen spart sie am Holz und zum anderen an der Kleidung, aber es langt nicht. Sie sieht keinen Ausweg.

1. Wie die Krähe („Arbeite, arbeite mehr“)

Das Lied von der Krähe hat betrachtenden Charakter, analysiert die Situation und übermittelt Weisungen. Es muss mehr gearbeitet, gespart und genauer eingeteilt werden. Vor allem muss genauer gerechnet werden. Wenn die Kopeke fehlt, kann man nichts machen. Was auch immer der Bürger in Angriff nimmt, es wird nicht genügen. Die Situation kann sich nur noch verschlimmern und es geht nicht weiter. Es stellt sich die Frage nach dem Ausweg. Der Krähe geht es nicht viel besser. Wenn sie ihr Junges nicht mehr füttern kann und machtlos dem winterlichen Schneesturm ausgeliefert ist, jammert sie, weil sie keinen Ausweg sieht. Siehst du einen Ausweg?

Was immer du tust, es wird nicht genügen. Deine Lage ist schlecht und sie wird täglich schlechter. So kann es nicht weitergehen. Aber wer zeigt euch den Ausweg? Fruchtlos arbeitet ihr und scheut die Mühe nicht, das Unersetzbare zu ersetzen, einzuholen, was nicht mehr einzuholen ist. Über das Fleisch, das euch in der Küche fehlt, wird nicht in der Küche entschieden!

Der Kommentator schaltet sich ein und berichtet vom Kummer der Mutter, die ihren Sohn in der Gesellschaft revolutionärer Arbeitet sieht. Misstrauisch hört sie von den neuen Ideen, die in Russland aus den unterdrückten Massen aufsteigen.

2. Das Lied von der Suppe („Wenn du keine Suppe hast“)

ist als Gleichnis zu verstehen. Wenn du keine Suppe hast, wie willst du dich da wehren? Du müsstest den ganzen Staat von unten nach oben kehren, bist du deine Suppe hast. Wenn für dich keine Arbeit zu finden ist, wie sollst du dich da wehren? Wenn du erst dein eigener Arbeitgeber bist, ist Arbeit für dich zur Genüge vorhanden. Keiner wird über deine Schwäche mehr lachen, wenn die bisher Missachteten eine große Macht sind.

Der Sprecher scheint die Frau auf Schritt und Tritt zu verfolgen, denn er plaudert alles aus, was sie bedrückt. Im April 1905 hört Pelagea Wlassowa, dass ihr Sohn Flugblätter in der Fabrik verbreiten will. Der junge Mann hat sich der Polizei bereits verdächtig gemacht. Um ihn zu schützen, verkleidet die Mutter sich als Gurkenverkäuferin und übernimmt mit angeborener Geschicklichkeit unter diesem Deckmantel selbst die Verteilung der Drucksachen. Durch die Flugblätter aufgeklärt, lehnen die Arbeiter gegen den Rat ihrer Gewerkschaftsführer die unzulänglichen Zugeständnisse des Unternehmens ab.

3. Der zerrissene Rock („Immer wenn unser Rock zerfetzt ist“)

hat in erster Linie symbolischen Wert, denn wenn etwas erklärt werden soll, was schwer oder gar nicht zu erklären ist, benutzt man ein Gleichnis. Also: wenn der Rock zerfetzt ist, dann muss mit allen Mitteln Abhilfe geschaffen werden. Man rennt zu der Stelle, die zum Ausbessern von Röcken zuständig ist, und steht frierend im Regen und wartet. Schließlich kommt man im Triumph zurück, doch was hat man in der Hand? Nicht etwa den ausgebesserten Rock, sondern nur einen Flicken. So ist das auch, wenn der Mensch Hunger hat. Mit leerem Magen steht er an und wartet. Schließlich kommt er mit einer Scheibe Brot zurück. Aber wo ist der ganze Laib? Der mündige Bürger will keinen Flicken, sondern den ganzen Rock, er will keine Schnitte, sondern das ganze Brot. Er braucht auch keinen Arbeitsplatz, sondern die ganze Fabrik. Um was es geht, ist nun vernünftig erklärt, so dass auch der Dümmste es versteht.

Der Sprecher berichtet, dass Pelagea Wlassowa zum ersten Mal an einer Demonstration teilnimmt, nachdem es infolge des Streiks zu Verhaftungen gekommen ist. Ein Arbeiter schildert die Turbulenzen während der Demonstration. Pelagea Wlassowa marschierte dicht hinter ihrem Sohn, der die rote Fahne trug. Als sie auf dem Erlöserboulevard angekommen waren, schrie plötzlich eine Stimme, dass der Wimpel zu verschwinden habe. Was soll das heißen? Die Fahne muss hochgehalten werden, besonders wenn sie rot ist, damit alle sie sehen können. So lange die Welt besteht, wird sie immer gesehen sein.

4. Gedanken über die rote Fahne („Darum werdet Ihr sie sehen“)

schließen sich an. Immer wieder wird man sie sehen. Ob gern oder ungern, richtet sich nach der Einstellung, die man zu ihr hat. Die Stellung des Einzelnen im Kampf wird ausschlaggebend sein. Dieser kann nicht anders als mit dem vollständigen Sieg der Unterdrückten aller Länder enden.

Der Sprecher, dem das Schicksal einer Mutter niemals gleichgültig ist, berichtet nun von einem kleinen Missgeschick. Wegen der Vorgänge bei der Demonstration zum 1. Mai ist Pawel Wlassow zu Gefängnis verurteilt worden. Die Mutter ist nun allein und ein Freund ihres Sohnes bringt sie zu einem Lehrer, der die Hilflose – so scheint es ihm – voller Mitgefühl bei sich aufnimmt. Wenige Wochen später ist seine Küche voll von Proleten aus der Nachbarschaft, denn Pelagea Wlassowa hat Propagandamaterial verteilt. Die Menschen sind geteilter Meinung. Die einen behaupten, der Kommunismus sei ein Verbrechen und die anderen glauben, es sei etwas Wahres dran und gut für sie.

5. Lob des Kommunismus („Was spricht gegen den Kommunismus?“)

ist der folgende Song übertitelt. Was spricht eigentlich gegen den Kommunismus? Er ist vernünftig und jeder versteht ihn. Wenn du selbst kein Ausbeuter bist, kannst du ihn auch begreifen. Für dich ist er in jedem Fall gut, du musst dich nach seiner Beschaffenheit genau erkundigen. Nur die Dummköpfe nennen ihn dumm und nur die Schmutzfinken nennen ihn schmutzig. In Wirklichkeit ist er gegen den Schmutz und gegen die Dummheit. Er bedeutet das Ende der Tollheit und bringt Ordnung in das Chaos.

Der Sprecher, der Pelagea Wlassowa wie ein Spuk verfolgt, berichtet, dass es ihr gut gehe. Im Alter von 45 Jahren lernt die Mutter noch das Lesen zusammen mit jungen und alten Arbeitern aus der Nachbarschaft. Man sieht, dass Lehrer ein Segen für die Menschheit sind. Eigentlich wollte Nikolai sein Wissen gar nicht weitergeben – er leidet nämlich an Weltschmerz, aber die Arbeiter haben gierig danach gegriffen.

6. Lob des Lernens! („Lerne das Einfache“)

Das Begreifen ist für Leute, die rechtzeitig kommen, einfach. Niemals ist es zu spät. Das ABC allein genügt nicht, du musst alles wissen, damit du deiner Aufgabe nachkommen kannst, wenn dir eines Tages eine Führungsposition angetragen wird. Der Obdachlose soll die Schule aufsuchen. Der Frierende soll sich Wissen verschaffen und der Hungernde ein Buch zur Hand nehmen. Lernen kannst du überall, im Asyl, im Gefängnis und in er Küche. Niemand soll sich scheuen, zu fragen. Wenn die Antwort nicht zufriedenstellend ist, kann der Wissbegierige auch selbst nachschlagen.

Pelagea Wlassowa ist in Sorge um ihren Sohn, der im Gefängnis sitzt, aber auch mächtig stolz, weil er vonnöten ist.

7. Das Lob des Revolutionärs („Viele sind zuviel“)

sollte zur Gewohnheit werden, weil er den Kampf um den Lohngroschen, um das Teewasser und die Macht im Staates organisiert. Dort, wo Unterdrückung herrscht, wird er seinen Mund aufmachen. Wohin sie ihn jagen, herrscht Aufruhr und von wo er verjagt wurde, bleibt die Unruhe. Nur er erkennt, ob die Kammer zu klein und das Essen gut genug ist. Wo er sich zu Tisch setzt, sitzt die Unzufriedenheit gegenüber.

Pelagea Wlassowa besucht ihren Sohn im Gefängnis und findet ihn ungebrochen.

8. Im Gefängnis zu singen („Sie haben Gesetzbücher“)

fällt leicht, wenn man seine Ideale hochhält. Die Justiz verfügt über Gesetzbücher und Verordnungen. Die Richter bekommen viel Geld und sind zu allem bereit. Der Klerus und die Professoren sind auch nicht unterbezahlt, die Staatsmänner gar nicht erst eingerechnet. Alle haben nichts anderes im Sinn, als den Genossen klein zu kriegen, weil sie die Wahrheit fürchten. Eines Tages werden sie sehen - es könnte schon bald sein - dass Kanonen sie nicht schützen werden und alles Getue ihnen nichts nützt. Selbst, wenn sie „Halt“ schreien, treffen sie auf taube Ohren, denn das Volk wird sich erheben.

Die Landarbeiter rühmen Pelagea Wlassowa, weil sie sich beim Bündeln des Getreides und dem Einsammeln der Feldfrüchte besonders hervorgetan hat. Aus dem Gefängnis hatte Pawel schriftliche Anleitungen verteilen lassen.

9. Ein Lob der Wlassowas („Das ist unsere Genossin Wlassowa“)

ist nun aber wirklich an der Zeit. Die Genossin ist eine gute Kämpferin, fleißig, listig und zuverlässig. Zuverlässig und listig gegen den Feind und umtriebig bei der Agitation. Obwohl ihr Arbeitsfeld nur klein ist, schätzt man ihre Zähigkeit. Doch sie kämpft nicht allein. Unentbehrlich sind auch die anderen, die ihren Lebensraum teilen. Eigentlich wird überall gekämpft, nicht nur in Twersk, sondern auch in Glasgow, Lyon, Chicago, Schanghai und Kalkutta. Die Wlassowas aller Länder sind gute Maulwürfe, als Soldaten der Revolution unentbehrlich für den Klassenkampf.

Der Sprecher hält das Publikum auf dem laufenden. Pelagea Wlassowa sieht ihren Sohn wieder, als er auf der Flucht nach Finnland Twersk besucht. Er trifft sie beim Drucken illegaler Flugblätter an und nutzt die wenigen Stunden, ihr dabei zu helfen. Die gemeinsame politische Arbeit hat ihr den Sohn nähergebracht. Wird Pawel lange fortbleiben? Wenn an der Basis gut gearbeitet wird nicht!
Auch im Exil wird für die Sache gearbeitet, weil es dort ebenso wichtig ist, wie vor Ort.

10 . Lob der dritten Sache („Immerfort hört man“)

Es ist überflüssig, darüber zu berichten, denn Pawel Wlassow wurde beim Versuch, die finnische Grenze zu überschreiten verhaftet und von der Polizei erschossen. Die Behörden unterrichten die Mutter.

11. Eine Grabrede („Aber als er zur Wand ging“)

wollen wir uns in diesem Report ersparen, weil die Botschaft nicht mehr interessiert. Der Wortwitz ist versandet und ödet nur noch an.

Über Pelagea Wlassowa ist noch nachzutragen, dass der Ausbruch des Weltkrieges die Gealterte krank und elend angetroffen hat. Die Sache ist in Gefahr, doch Pelagea Wlassowa steht noch einmal auf und kämpft bis zum Umfallen.


Letzte Änderung am 24.1.2008
Beitrag von Engelbert Hellen